Brüssel: Sitz des EU-Parlaments und Hauptaufenthalt der lieben Schwester für 3 Monate. Ein guter Grund, einen Ausflug nach Belgien zu machen.
Dieser Ausflug war zwar erhofft, aber seine Realisation hatte ich schon aus beidseitigem Zeitmangel abgeschrieben. Wie es aber der Zufall so wollte, schüttete genau dann Fortuna ihr
cornu copiae über mir aus, als ich mich schon damit abgefunden hatte, zu Hause zu bleiben: man fragte mich, ob ich nicht in höchster Spontaneität einen vakanten Platz in einer Reisegruppe einnehmen wolle. Diese Reisegruppe setze sich aus lauter engagierten jungen Menschen zwischen 16 und 26 Jahren zusammen, die sich für eine Einladung ins EU-Parlament beworben hatten. Die mit den besten Motivationsschreiben wurden gewählt: Reise- und Unterkunftskosten würden von der einladenden Abgeordneten übernommen und vor Ort sei für die Gruppe ein Programm zusammengestellt worden, das sich aus Terminen mit u.a. Vertretern der Gewerkschaft und Vertretern des Journalismus zusammen setze.
Ob ich da also mitfahren wolle, es sei nämlich jemand ausgefallen und man bezweifle ob der Kurzfristigkeit, noch jemand passenden zu finden? Ich dachte lange und konzentriert nach und hatte nach etwa 2 Minuten die Entscheidung getroffen:
Natürlich bin ich dabei!
Vor der Abfahrt war ich nervös. Ich rechnete damit, die einzige zu sein, die sich politisch nicht unheimlich gut auskennt und erwartete eine Gruppe junger Menschen, die alle tagelang für die Reise recherchiert und Fragen vorbereitet hatten. Mein Bestreben war es daher, im Hintergrund zu bleiben.
Tja. Ich sollte überrascht werden: Die Reisegruppe setzte sich aus unglaublich aufgeschlossenen, intelligenten, interessierten und kommunikativen jungen Menschen zusammen. Obwohl eine Spanne von zehn Altersjahren zwischen dem jüngsten und ältesten Teilnehmer lag und auch eine Bandbreite and Herkunftsorten (in Ö) und Studienfächern abgedeckt wurde, gab es keinerlei Evidenz davon im Umgang miteinander. Innerhalb der folgenden vier Tage sollte die Gruppe zusammenwachsen, wie ich es mit einander komplett unbekannten Menschen noch selten erlebt habe.
Aber nun zurück zum Start:
Unser EU-Abenteuer begann mit einer 15-stündigen Busfahrt, die unser aller Genicke, Rücken und Beine auf Belastbarkeit testete und mich nebenbei realisieren ließ, dass mir meine Geldbörse wohl in Wien abhanden gekommen sein musste. Entsprechend entspannt kamen wir am Ende der Nacht in Brüssel an, wo wir vom lieben Schwesterlein in Empfang genommen wurden.
Der erste Tag stand uns komplett zur eigenen Gestaltung zur Verfügung und nach dem Bezug des Zimmers und einer revitalisierenden Dusche und einem guten Frühstück wurde ich von der lieben Schwester durch die ganze Stadt geführt.
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Hauptplatz |
Vorbei am Manneken Pis, dem bekannten kleinen Bronzejungen, der in einen Brunnen pinkelt.
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Der kleine Mann ist zwar meist nackt, hat aber eine ganze Garderobe und wird hin und wieder eingekleidet (An Sonntagen?) |
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Ab dort beginnt es auch unerträglich nach Waffeln zu duften - reiht sich immerhin eine Waffelausgabestelle an die nächste. Freilich kann ich nicht wiederstehen und erstehe eine
gaufre de Liège, die sich von den
gaufres de Bruxelles darin unterscheidet, dass sie oval und nicht rechteckig, aus Germ- und nicht Rührteig ist, und dass der Zucker schon eingearbeitet ist und nicht nur drauf. Wenn man ein richtiger Klischeetourist ist, lässt man sich auf seine Waffel noch diverses Obst, Schlagobers und Soßen türmen, doch davon wäre mir wohl schlecht geworden.
Außerdem werde ich als nächstes durch einige der vielzähligen Schokoladegeschäfte geschleift, wo man überall Kostproben angeboten bekommt und ich etwaige bestehenden Resthunger auch vernichten kann: Danke, Abendessen muss glaub ich nicht mehr sein.
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Lütticher Waffel (g. de Liège) - hier mit Eis. Die typische Nachspeise im 3-teiligen Touristenmenü. |
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Makronen gibt's auch überall, neben handgeschöpfter Schokolade, Keksen aller Arten etc etc. |
Soviel zum Sonntag. Wir sehen bei Dunkelheit noch das Atomium von der Weite leuchten (und ich befinde, dass das ausreicht) und irgendwann begebe ich mich zurück in mein Hotelzimmer.
Der nächste Tag beginnt mir einem Riesenfrühstücksbuffet, das keine Wünsche offen lässt und uns für den Tag stärkt. (Ich erwähne das, weil ich gar nicht weiß, wann ich das letzte Mal bei einer Reise ein derartiges Frühstück dabei hatte und mich deshalb umso mehr drüber freute). Zeitig beginnt unser Programm mit einem Besuch der Wirtschaftkammer. Wir erfahren so einiges über die EU und das Parlament. In der Kommission wird unser neu erworbenes Wissen dann erweitert und vertieft.
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Man lässt uns in den diversen Sitzungssälen Platz nehmen. Jeder ist anders, jeder ist interessant. |
Bei den vielen parlamentszugehörigen Gebäuden ist es leicht, den Überblick zu verlieren; vor allem deshalb, weil das gesamte Viertel sich im ständigen Um- und Neubau zu befinden scheint und man bei all den Baustellen oft gar nicht weiß, wo man hin muss.
Schließlich waren wir auch im Parlament selbst - einem riesigen, blitzenden Glaskomplex.
Der Tag klingt - zwangsläufig - bei einem Bier aus. Dass das Lokal '
Delirium' heißt, amüsiert mich, und ich bestelle mir aus lauter Begeisterung gleich ein
Delirium tremens.
Der nächste Tag hat ein vielversprechendes Programm, war aber auch der anstrengendste: Wir beginnen ihn in der ständigen Vertretung, wo die Vortragende ihre Powerpointpräsentation nach 2 Folien abbricht und wir stattdessen in eine angeregte Diskussion darüber verfallen, wie man EU-Themen interessanter und zugänglicher unter die Leute bringen könnte, was Schulen dazu für einen Beitrag leisten könnten etc etc. Generell während allen Vorträgen, aber hier im Besonderen, bekomme ich den Eindruck, dass die Repräsentanten, die wir treffen, stark an unserer Meinung und Wahrnehmung interessiert sind und auch daran, wie man das Konzept der EU - so oft von unseriösen Zeitungen durch den Dreck gezogen und verzerrt - ausgewogener und realitätsnaher vermitteln kann. Sehr inspirierend: ich mache mir Notizen.
Weiter geht's zum Gespräch mit einem Vertreter der Zeitung 'Standard', der uns die Sicht- und Arbeitsweise eines Berichterstatters näherbringt und uns von seinen Anfängen in Brüssel erzählt. All das Zuhören und Aufsaugen von Information erschöpft....
... doch der spannendste Programmpunkt der Tages liegt noch vor uns. Zum Glück gibt es im Parlament Kaffee um nur 20 cent am Automaten zu erstehen und wir tanken neue Kraft, bevor unser nächster Weg uns ins
Parlamentarium führt. Allen Brüsselbesuchern sei ans Herz gelegt, ihre Schritte dorthin zu lenken. Dieses Besucherzentrum des Parlaments ist voller gut aufbereiteter Information über die EU, sodass ich wirklich bereue, mir nicht mehr Zeit dafür genommen haben zu können. Ich konnte mir die Ausstellung nämlich nicht recht zu Gemüte führen, da unsere Gruppe Sonderprogramm hatte:
Es gibt dort ein buchbares Rollenspiel, wo die Gruppe per Zufallsprinzip in vier Fraktionen (Traditions-, Freiheits-, Solidaritäts- und Ökopartei) geteilt wird. Man bekommt ein Smartphone in die Hand gedrückt, das einen durchs Spiel leitet. Mein Smartphone sagt, dass ich zur Ökopartei gehöre. Schön. Damit kann ich zumindest was anfangen.
Wir beginnen im Plenarsaal, wo der 'Präsident' von einer Videowall zu uns spricht und uns bittet, uns innerhalb der Partei in zwei Ausschüsse zu den Themen Microchipimplantate und Wasserversorgung zu teilen. In unserem kleinen Parteiraum tun wir das dann und werden von dort alle einzeln auf Recherchetour geschickt: An kleinen Bildschirmen, die am Rand des Raumes an schematischen Bars, Tankstellen, Busstationen etc angeordnet sind, kann man per touch screen 'Interviews' mit Personen aller möglichen Hintergründe führen. Wissenschafter, besorgte Eltern, Pubbesitzer sagen uns ihre Meinung und ich schreibe mit, bis meine Hand krampft. Zurück geht's zu meiner Arbeitsgruppe und wir haben ein paar Minuten Zeit, unsere Position zu definieren, bevor wir in den Ausschuss geschickt werden, um mit den Vertretern der anderen Parteien zu diskutieren. Nach 5 Minuten müssen wir ein Ergebnis haben - puuuh. Unmöglich ist das, wenn alle ihre Punkte durchsetzen wollen.
Plötzlich wird unsere Diskussion von einer Katastrophenmeldung unterbrochen: In einer fiktiven Stadt kam es zu einem Erdbeben, die Medien bringen uns arme Pseudopolitiker in Zugzwang. Auf einmal stehen wir vor Mikrophonen und Videowalljournalisten stellen uns Fragen. Wer kommt zuerst dran? Ich, natürlich. Dieser Druck! Ich fabriziere stringente heiße Luft, bis meine Zeit abrennt und ich wieder durchatmen und zurück in den Ausschuss darf. Weiter geht's in dieser Manier: schnell, zackig, mit viel zu wenig Zeit für Einzelheiten.
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Im Plenarsaal: Ökoparteifraktion |
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Vertreter der Parteien werden um Stellungnahmen gebeten |
Schlussendlich kommt es im Plenarsaal zu Stellungnahmen einzelner Repräsentanten (und sie haben das wirklich gut gemacht!) und anschließender Abstimmung. Alles vorbei? Nein: der Videowallministerrat stellt uns ein Bein und legt Veto ein. Zurück zum Start und Neuverhandlungen.
Nach zwei Stunden sind wir körperlich und geistig erschöpft, aber emotional aufgekratzt, wie dreizehnjährige Pubertierende: Die Zeit war viel zu kurz! Unser Thema wurde nicht ausreichend behandelt!
Wir bekommen eine kurze Pause, um wieder runter zu kommen, bevor wir uns abends zu einem gemeinsamen Essen versammeln. Zeit für die nächste typische Speise:
moules frites: Muscheln in Sauce, dazu Pommes frites (ohne Pommes geht nämlich in Brüssel nix).
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Vielleicht die besten Moules, die ich je hatte. |
Auch dieser Abend klingt im Delirium aus und ich wage mich an Kreationen wie Apfelbier (≠ Cider) und Kirschbier und mehr traditionelle Biersorten, wie Leffe. Sehr gut. Der Spaziergang zurück tut gut.
Es folgt ein weiterer Halbtag im Parlament mit dem Besuch des Rats. Hier endet unser Programm. Ich nutze meine letzten paar freien Stunden noch für den Besuch des
Magrittemuseums, dessen misslungenes Besucherleitsystem mich zuerst verärgert, weil ich fast eine Viertelstunde brauche, um den Eingang zur Ausstellung zu finden. Das Museum belohnt mich aber für meine Geduld: es lässt mich so richtig schön in die Welt der surrealen Malerei eintauchen und erleichtert meinen Geist kurzfristig um die Fähigkeit in Worten zu denken.
Schließlich nehme ich Abschied von Schwester und Stadt und falte mich in einen der engen Bussitze, in Vorfreude darauf, meine Beine in Wien wieder durchstrecken zu können.
Diese Reise war, zugegebenermaßen, einmalig. Ich hatte danach das Gefühl, unheimlich viel Neues gelernt zu haben, fühlte mich inspiriert und war wirklich traurig, dass unsere großartige Gruppe sich schon wieder auflösen musste, da ich mit vielen von ihnen sehr bereichernde persönliche Gespräche führen hatte können. Neue Freundschaften wurden geschlossen und zu manchen wird auch der Kontakt gewahrt bleiben.
Gedankt sei jedenfalls den lieben Mitreisenden für die vielen Fotos,
denn ohne sie wäre ich fotolos wieder nach Hause gekommen und dieser
Beitrag wäre weniger bunt.
Ja, und was kommt als Nächstes?
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Je ne sais pas! Es wird sich etwas finden. |