Sunday, March 04, 2012

Die Ästhetik eines Giraffenpopos

Ein von mir sehr respektierter (wenn auch leicht respektvoll gefürchteter) Professor warf beim Betreten einer Kirche mit gut erhaltenen und deshalb sensationellen Fresken eine bissige, doch höchst treffende Aussage in den überwölbten Raum, nämlich, dass Leute heutzutage überhaupt nicht mehr schauten, sondern nur gleich mehrere Fotos machten, um danach ihr Augenmerk (oder eher das Objektiv) auf die nächsten Dinge zu richten. Diese Aussage ließ mich zuerst einmal beschämt die Kamera einstecken und setzte im Weiteren einen langjährigen Denk- und Beobachtungsprozess in Gange, der mir die Freude an der Fotografie minderte. Gut so.

Bei einem Besuch im Tierpark kürzlich nahm ich mir Zeit für ein paar weniger frequentierte Gehege, um den durch energisch geschobene Kinderwagen induzierten blauen Flecken im Schienbeinbereich vorzubeugen und weiters eine gute Sicht zu haben. Ich beobachtete die von mir gewählten Exemplare eine Weile und ließ die Massen an mir vorbeiziehen. Dabei konnte ich nicht umhin, auch die Wesen auf meiner Seite der Glasscheibe ins Auge zu fassen und bei manchen ein seltsames Verhalten festzustellen: Man betritt das Gebäude, sucht das Tier, tritt mit gezückter Kamera an die Scheibe/das Gitter, stellt scharf, drückt ab, schaut auf den kleinen Bildschirm, geht weiter. Nächstes Gehege, andere Menschen - selbes Procedere: einmal sind es die Hinterteile von zwei Giraffen, die festgehalten werden, dann ist es je-der-ein-zel-ne Vogel in einer Voliere. (Kein Wunder, dass die Kaiserpinguine alle dem Besucherfenster immer den Rücken kehren.)

Innegehalten wird nur zum Scharfstellen. Geschaut wird später.

Oder gar nicht.

Ich bezweifle nämlich stark, dass die emsigen Hobbyfotografen mit Ausrüstungen von variablem Wert sich die Giraffenpopos jemals wieder ansehen. Und ganz ehrlich: warum ein minderqualitatives, von Gitterstäben eingegrenztes Bild von Giraffen machen, wenn man so schöne Fotos von denselben Tieren in freier Natur im Internet findet? bzw. weiß doch eh jeder, wie eine Giraffe aussieht. Warum schaut man sich die Giraffen nicht im Detail an, wenn man schon einmal eine echte vor sich hat? Was für einen verbogenen Hals sie haben, zum Beispiel, oder wie die Schecken teilweise fast herzförmig sind. Oder die lustigen kleinen Vögel in der Voliere: ich fand's spannend, ihnen dabei zuzusehen, wie sie minutenlang versucht haben, Sardellen mit den langen dünnen Schnäbeln aufzuheben, zu zerpicken oder so zu positionieren, dass sie sie schlucken konnten. Wie der eine Säbelschnäbler, mit dem leicht verbogenen Schnabel von der bösen kleinen Ente gejagt wurde, weil er in ihr Futter getreten ist. Dass einer der Lemuren irgendwie über die Abdeckung des Geheges hinausgeklettert ist und zwischen Scheinwerfern auf dem Gitter herumgeturnt ist. Das haben diese Menschen alles nicht gesehen.

Ich muss dem geschätzten Professor Recht geben: Fotografie ist vielfach zu so etwas Automatisiertem verkommen, dass viele Menschen, anstatt das Besondere im Moment zu erkennen und aufmerksam zu beobachten oder zu betrachten, lieber mit einer bemerkenswerten Obsession ihren Weg mit einer Fülle unnötiger und minderwertiger Aufnahmen zu dokumentieren. Für irgendwann anders. Ich hingegen habe das Sehen wieder für mich entdeckt. Fotos sollen doch die anderen machen.

4 comments:

El / Mo said...

Sehr treffend... :D

Leni said...

Sehr guter Text!
Ich gehöre zu den Menschen, die versuchen, sowohl den Moment zu genießen als auch mit meiner Kamera für immer mitzunehmen. Ob ich dadurch etwas verpasse, kann ich selbst wohl gar nicht sagen, aber deine Worte lassen mich definitiv darüber nachdenken.

Viele Grüße, Leni

Leni said...

Vielen Dank auch dir für den Kommentar und das Kompliment :)
Wenn dem tatsächlich so ist, dann denke ich auch, dass eigene Modestile zumindest schonmal ein Schritt in die richtige Richtung sind!

Liebe Grüße und einen schönen Abend! Leni

Feuerkatze said...

Ich halte es da wie Leni, ich kann durchaus auch mal länger an einem Gehege stehen und nur zugucken, werde aber auch immer die Kamera im Anschlag haben um den Moment festzuhalten.
Es gibt aber auch Tage/Momente, wo ich die Kamera Kamera sein lasse und einfach nur gucke. Das eine sollte ja das andere nicht zwingend ausschliessen.